Bitte geben Sie einen Suchbegriff ein:

Architektur heisst Geschichten erzählen

Autorin: Evelyne Oechslin
Illustration: Daniel Ramirez Perez

Gebäude schaffen Werte. Das international tätige Designbüro Sasaki ist davon überzeugt, dass Architektur der Gesellschaft einen Nutzen bringen soll, und arbeitet darum wertebasiert. Chefplanerin Caitlyn Clauson und Chefarchitekt Victor Vizgaitis erzählen, was das in der Praxis bedeutet, warum Zuhören den Unterschied macht und in welchen Situationen sie als Vorgesetzte das Entscheiden übernehmen.


Im Bauprozess steht oft der finanzielle Wert von Ge­bäuden im Vordergrund. Dieser Blick ist verkürzt, denn Architektur prägt den Alltag der Menschen und hat einen grossen Einfluss auf die Gesellschaft und die Umwelt – während und noch lange nach dem Bau. Werden diese Perspektiven miteinbezogen, wird klar, dass Gebäude Werte in vielen unterschiedlichen Dimensionen darstellen. Diese Sichtweise wird in der Architektur immer stärker diskutiert. Nicht zuletzt dank der Nachhaltigkeitsdebatte, die das Nachdenken über Gebäude in den letzten Jahr­zehnten verändert hat. In der Branche gibt es zudem eine erstarkende Bewegung, die sich der Schönheit von Bau­werken zuwendet und in den Vordergrund stellt, welche Bereicherung ein Gebäude für die Gesellschaft sein kann. Ein Vertreter dieser Haltung ist das Architekturbüro Sasaki mit Standorten in Boston, Denver und Shanghai.

Drei wertvolle Dimensionen
Victor Vizgaitis, leitender Architekt bei Sasaki, zählt drei Dimensionen auf, in denen ein Gebäude Wert haben kann. Als erstes nennt er die Nutzbarkeit: «Als Architekten können wir bei der Planung nicht einfach wie Künstlerinnen und Künstler denken. Funktionalität ist selbstverständlich, sei es fürs Wohnen, Arbeiten oder als gemeinschaftlich ge­nutzter Raum.» Zum Zweiten sollten Gebäude über eine emotionale Komponente verfügen, die über blosses Funk­tionieren hinausgeht. Vizgaitis nennt dies «Delight», zu Deutsch Freude oder Begeisterung. Er definiert: «Was uns emotional anspricht, macht die Welt besser.» Die dritte Dimension sei etwas schwieriger zu fassen. Sie betrifft die grossen Fragen, welche die Gesellschaft herausfordern: «Ein Gebäude sollte etwas zum grossen Ganzen beitragen», so der Architekt.

 

«Ein Gebäude sollte etwas zum grossen Ganzen beitragen.»

 

Seine Kollegin, Planerin Caitlyn Clauson, ergänzt zum dritten Aspekt: «Ein Gebäude ist ein Ort, wo eine Mission ihren Ausdruck findet.» Im besten Fall sei es ein Ort des Treffens, für alle zugänglich. Darum sei es auch wichtig, inklusiv zu planen und miteinzubeziehen, wie das Gebäude sich in den öffentlichen Raum und in die Landschaft einfüge.

Universal Design sollte mitgedacht werden
Für alle Generationen zu bauen, erfordert 
Kreativität von allen Beteiligten.

Diverse Teams seit 1953
Die Werteorientierung hat bei Sasaki Tradition. Bereits 1953 legte Firmengründer Hideo Sasaki Wert darauf, dass jedes Projekt in seinen kulturellen, historischen, geografi­schen, umweltbedingten, sozialen und ökonomischen Kontext eingebettet wird. Noch heute basiert die Arbeit des Architekturbüros auf diesen Werten. «Die vertiefte Ausein­andersetzung mit dem Kontext steht am Anfang jedes Projektes. Die hohe Kontextualität bedeutet, dass keine zwei Projekte gleich sind», erklärt Clauson. «Darum gibt es auch keinen erkennbaren Sasaki-Stil», so die Planerin. 

Ein wichtiger Teil der Arbeit von Sasaki ist zudem seit jeher der Einbezug von diversen Perspektiven. «In den 50er-Jahren war das eine ziemlich neue Idee», so Clauson. Alle Teams bestehen aus Expertinnen und Experten der drei Sasaki-Abteilungen Landschaft, Architektur und Stadt­planung. «Kein Zugang ist wichtiger als der andere», sagt Vizgaitis. Von dieser Interdisziplinarität würden die Projekte profitieren. Denn keines stamme nur aus dem Hirn einer Person. Stattdessen seien es kollektive Anstrengungen. «Die Mitglieder unserer divers aufgestellten Teams hinter­fragen sich gegenseitig kritisch und spornen sich an, besser zu sein», erklärt der Architekt.

Vor dem Hintergrund dieser gelebten Tradition erstaunt es nicht, dass drei der fünf Werte, die sich Sasaki auf die Fahne geschrieben hat, die Kommunikation und die Zu­sammenarbeit betreffen: Das Designbüro hat sich erstens zum Ziel gesetzt zuzuhören, zu erforschen und kontinuier­lich zu lernen, zweitens neue Ideen durch einen aktiven und inklusiven Dialog zu provozieren und drittens die Diver­sität von Ideen, Perspektiven und Menschen zu fördern.


Werte im Praxistest
Diese Werte mögen zunächst abstrakt klingen, sie lassen sich in der Praxis aber gut umsetzen. Clauson und Vizgaitis erzählen, wie ihre multiperspektivische Arbeitsweise funk­tioniert. Grundvoraussetzung dafür ist eine flache Hierarchie. Die Ideen von jedem und jeder werden als gleich wichtig bewertet. «Es geht um die beste Idee, und wenn diese vom Praktikanten kommt, wird sie ebenso ausgeführt, als wenn sie von der Chefin stammt», sagt Victor Vizgaitis dazu.

Caitlyn Clauson beschreibt den Arbeitsprozess weiter. Ihr Ansatz sei es, stets auf ein Narrativ zu fokussieren, also eine Geschichte zu erzählen, um die Beteiligten mit an Bord zu holen: «Das Briefing am Anfang ist entscheidend. Je klarer wir es formulieren, desto besser wird am Ende die Lösung.» Bei Sasaki kommen die Teams in regelmässigen Arbeitstreffen zusammen und arbeiten gemeinsam an klar formu­lierten Zielen und Meilensteinen.

Ganz ohne Hierarchien funktioniert es aber nicht. Es gibt 30 Partnerinnen und Partner im Unternehmen. Diese über­nehmen Führungsverantwortung und sorgen für die Motiva­tion des Teams. «Das Ziel ist ein Konsens. Das funktioniert nur, wenn alle Mitarbeitenden an die Story glauben, an der wir arbeiten. So hat jede und jeder ein Interesse zu ihrem Erfolg beizutragen», sagt Vizgaitis. Das sei ein völlig anderer Ansatz als in Büros, wo eine klassische Top-down-Kultur gelebt werde. Wenn es im Team aber trotz allem nicht zu einer Einigung komme, dann müssten die Partner gemäss ihrer Führungsrolle die Entscheidung treffen und die Verantwortung für sie tragen. 

Kunden mit Storytelling abholen
«Auch den Kontext der Kunden und Partnerinnen gilt es im Prozess und bei der Ausarbeitung der Story zu berücksichtigen», so Planerin Clauson. Schliesslich seien auch diese unterschiedlich aufgestellt. Bei manchen Projekten lenke ein Vorstand den Entscheidungsprozess, während es bei anderen einen grundlegend konsensbasierten Prozess gebe. «Um eine gute Geschichtenerzählerin zu sein, muss man auch eine gute Zuhörerin sein. Wir müssen verstehen, was sich der Kunde wünscht und braucht und daraus eine einzigartige Lösung erarbeiten», sagt sie.

Meistens sei es nicht schwer, die Kunden von einer werte­basierten Planung zu überzeugen, wenn man ihnen deren Vorteile aufzeige, meint sie weiter und Vizgaitis ergänzt: «Menschen sind dem Risiko eher abgeneigt. Wir zeigen ihnen auf, dass wertebasiertes Bauen nicht zwangsläufig mehr Zeit oder mehr Geld in Anspruch nimmt, sondern bloss mehr Kreativität von uns fordert.»

 

«Gebäude haben eine funktionale und eine emotionale Komponente.»

 

Kunst und Daten verbinden
Die diverse Zusammensetzung der Sasaki-Teams hilft da­bei, den vierten Wert des Unternehmens umzusetzen. Dieser besagt, dass das Unternehmen den künstlerischen Ausdruck mit evidenzbasierten Lösungen verbinde. «Beide Aspekte sind für ein gutes Projekt wichtig. Gebäude müs­sen funktionieren und sollten gleichzeitig eine emotionale Wirkung haben», sagt Vizgaitis. Um beide Seiten zu ver­einen, komme wiederum die Kunst des Geschichtenerzäh­lens ins Spiel: «Wir müssen bei jedem Projekt überlegen, wie wir beides verbinden und dies durch eine überzeugende Story vermitteln.» Clauson ergänzt, dass die Rolle der datenbasierten Planung nicht zu unterschätzen sei: «Fakten auf den Tisch zu bringen, hilft uns fundierte Entscheidungen zu treffen und fördert die Konsensbildung», sagt sie. 

Auch beim Thema Nachhaltigkeit spielen Daten eine wichti­ge Rolle. Sasakis fünfter Wert ist, für eine nachhaltige und resiliente Zukunft zu designen und zu planen. Das Unter­nehmen versucht dabei einen Schritt weiterzugehen und sich bei Aspekten wie Ressourcennutzung, Dekarbonisie­rung, Bepflanzung, Mobilität konkrete und weitreichende Ziele zu setzen. «Nachhaltigkeit ist zu einem grundlegenden Element unserer Arbeit geworden», so Clauson. Bei diesem Thema sei es wichtig, flexibel zu bleiben, ergänzt ihr Kolle­ge: «Die ökologische und ökonomische Perspektive auf die Nachhaltigkeit ändert sich ständig. Gerade die Pandemie hat uns gezeigt, dass Gebäude variabel sein müssen, um lange nutzbar zu bleiben.»

Umbauen erfordert Kreativität
Im Sinne der Nachhaltigkeit werden immer mehr Gebäude umgebaut statt abgerissen. Clauson findet diese Entwick­lung wichtig. Weil sie Herausforderungen möge, gefalle ihr die gestalterische Einschränkung, die ein solches Projekt mit sich bringe. Wiederum gehe es um Flexibilität und kreatives Denken, damit aus dem Bestand etwas Neues werde. «Am Anfang des Prozesses analysieren wir das Gebäude und fragen es, ob es ein Kandidat für einen Um­bau ist und was es werden möchte. Je mehr wir wissen, desto mehr spricht das Gebäude zu uns», sagt sie mit einem Schmunzeln.

Vizgaitis vertritt in der Diskussion um Umbau und Abriss eine differenzierte Meinung: «Das Thema bietet sich für eine provokative Aussage an, im Sinne von ‹man sollte nie ein Gebäude abreissen›. Aber diese Haltung ist mir zu einfach.» Es mache keinen Sinn sich solch strengen Rest­riktionen auszusetzen. Hier kommt das eingangs erwähnte Prinzip der Nutzbarkeit wieder ins Spiel. Dieses müsse immer an erster Stelle stehen. «Schliesslich soll ein Gebäude nicht minderwertig und für seine Nutzerinnen und Nutzer unbrauchbar sein, nur damit die Substanz erhalten bleibt», sagt der Architekt. Manchmal funktioniere ein bestehendes Gebäude einfach nicht für die ansässige Community.

Universal Design sollte mitgedacht werden
Bauen im Bestand ist aus einem weiteren Grund kein All­heilmittel. Wie Caitlyn Clauson erläutert, ist nicht bei allen bestehenden Gebäuden ein hindernisfreies Bauen möglich. Bei alten Bauten seien solche Aspekte oft schlicht nicht berücksichtigt worden und nicht überall könnten sie nach­träglich eingebracht werden. Darum ergebe ein Neubau in solchen Fällen mehr Sinn. Dieser Aspekt sei unbedingt zu berücksichtigen. «Ich setze mich sehr für die Prinzipien des Universal Design ein», sagt sie. Bei dieser Design-Philosophie geht es darum, ein Projekt so zu planen, dass es von einer möglichst breiten Masse genutzt werden kann. Beispielsweise wird, statt einen separaten Eingang für spe­zifische Nutzerinnen und Nutzer zu schaffen, der Hauptein­gang für alle zugänglich gemacht. Clauson findet, dieses Denken sollte in der Planung immer der erste Instinkt sein.

 

«Ich setze mich sehr für die Prinzipien des Universal Design ein.»

 
Architekt Victor Vizgaitis ist einverstanden, dass Inklusion stets priorisiert werden sollte. «Das heisst aber nicht, dass es immer jedem einzelnen Individuum möglich sein wird, jeden Raum gleich gut zu nutzen, gerade bei Wiederver­wendungs-Projekten. Jedes Gebäude ist auch ein Gebäude in unserer Welt, in der Öffentlichkeit, und spielt eine Rolle dabei, wie wir Gebäude wahrnehmen und wie diese unsere Erfahrungen prägen. Es wird von aussen wahrgenommen.» Es sei darum gut, Prinzipien wie das Universal Design als Orientierungspunkt zu nehmen. Schliesslich erfordere auch dieser Wert mehr Kreativität von allen Beteiligten, was einem Projekt auf jeden Fall zugutekomme.

Die emotionale Komponente
Werte machen nicht nur Gebäude nutzbarer, schöner und besser für die Gesellschaft, sie fördern auch die Kreativität. Diesen Aspekt erwähnen die beiden Sasaki-Vorstandsmit­glieder im Zusammenhang mit der wertebasierten Planung mehrmals. Wenn Architektur mehr auf die individuelle Situation eingeht, wird sie letztlich wertvoller – im ideellen wie auch im monetären Sinn.

Haben Caitlyn Clauson und Victor Vizgaitis unter all den Werten für die Sasaki steht auch persönliche Favoriten? Gibt es Werte, die sie in der Branche gerne ernster genommen sähen? Architekt Vizgaitis meint dazu: «Der Bauprozess muss immer schneller und günstiger sein. Oft geht das auf Kosten der Emotion. Das ist schade. Denn wir alle haben das Recht darauf, an Orten, die wir lieben, zu wohnen und zu arbeiten. Wir sollten die emotionale Kom­ponente nicht opfern, weil wir so einen wichtigen Teil des Menschseins aufgeben.» Clauson macht sich besonders für den Wert der Inklusion stark: «Ich wünsche mir, dass das ein Grundsatz für jedes Projekt wird.»

Caitlyn Clauson und Victor Vizgaitis
Caitlyn Clauson ist Vorsitzende, Mitglied des Vorstandes und Hauptplanerin bei Sasaki. Ihre Spezialgebiete sind die Entwicklung von Campus-Masterplänen, Analysen zur Raumplanung und -nutzung und Strategien zur Einbindung der Öffentlichkeit.
Victor Vizgaitis ist Leiter des Bereichs Architektur und Innenarchitektur und Vorstandsmitglied bei Sasaki. Mit seinem Team bringt der Architekt ein breites Spektrum an Disziplinen von Architektur, Interior Design bis hin zu Landschafts- und Stadtplanung zusammen.

Den Beitrag zum wertebasierten Architekturansatz von Sasaki finden Sie auch in unserem Slide #4. In dieser Ausgabe des Magazins erfahren Sie ausserdem mehr über den Balanceakt zwischen Ästhetik und Akustik und wir nehmen Sie mit, wenn in der Schweiz eine barrierefreie Wohnung geplant wird.

Das Magazin kostenlos nach Hause bestellen oder direkt downloaden.